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Great Lakes

Die Großen Seen Nordamerikas

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red left arrow Eine Übersichtskarte des Reisegebiets mit den eingezeichneten Routen finden Sie in der vorderen Umschlagklappe.
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VISTA POINT … Reisen Tag für Tag
Der rote Faden für unterwegs

Über das Buch

Wie ein Ahornblatt erstrecken sie sich über den nordamerikanischen Kontinent – die Großen Seen zwischen den USA und Kanada. Sie sind den meisten Amerikabesuchern unbekannt, obwohl sich an ihren Küsten einige der schönsten und interessantesten Plätze des Landes finden: wilde Nationalparks wie der Isle Royale National Park im Lake Superior, romantische Strände entlang dem Lake Michigan, die tosenden Wassermassen der Niagarafälle, lebhafte Badeorte wie Grand Bend am Lake Huron, europäisch anmutende Universitätsstädte wie Ann Arbor und Madison und historische Gedenkstätten wie die erste Ölmine und »Onkel Toms Hütte« in Ontario (Kanada). Kulturell Interessierte kommen beim Shakespeare Festival in Stratford (Kanada) auf ihre Kosten, bei Besuchen von Häusern des »amerikanischsten« Architekten Frank Lloyd Wright, bei Konzerten in Chicago oder Cleveland, den Museen von Toronto und Detroit oder in der Rock’n’Roll Hall of Fame in Cleveland. Die Shopping-Fans sind in der Mall of America bei Minneapolis richtig, und wer pulsierende Großstädte mit multikultureller Szene und herausragender Architektur sucht, erlebt diese in Chicago und Toronto (Kanada). Traditionelles amerikanisches Kleinstadtleben findet man am Mississippi.

Drei abwechslungsreiche Routen lassen sich miteinander verknüpfen, einzeln abfahren und haben eines gemeinsam: Sie erschließen faszinierende Landschaften und Städte im Herzen Amerikas.

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Über die Autoren

Günther Wessel studierte Germanistik und Philosophie, arbeitete als Sachbuchlektor und ist heute als Reisejournalist für Zeitungen und Zeitschriften tätig. Er schreibt vorwiegend über Nord- und Südamerika, aber auch über historische und Wissenschaftsthemen, lebt (immer mal wieder) in Düsseldorf (ansonsten am liebsten in der englisch- oder spanischsprachigen Ferne).

Peter Tautfest wurde in Berlin geboren, wuchs in Chicago auf und lebte lange in Washington, D.C. Er studierte an der University of Texas, der Yale University und der Freien Universität Berlin, arbeitete als Literatur- und Architekturkritiker, Wissenschafts- und Reisejournalist und war Fachredakteur einer geowissenschaftlichen Zeitschrift. Peter Tautfest starb im Januar 2001 in Berlin.

Heike Wagner studierte Amerikanistik, Englische und Spanische Literatur (MA) und ist heute als freiberufliche Reisejournalistin für verschiedene Verlage tätig. Sie bereist und beschreibt die Großen Seen, die Rocky Mountains und andere Reiseregionen der USA sowie Kanadas.

Inhalt

  Die Großen Seen
Reiseland im Herzen Amerikas
  Routenplanung
Wie man die Reise gestalten kann
  Chronik: Daten zur Geschichte der Region
  IN 24 ETAPPEN RUND UM DIE GREAT LAKES
toc1 Hauptstadt des Mittleren Westens
Chicago
  EIN SEE: RUND UM DEN LAKE MICHIGAN
toc2 Die Hauptstadt der Deutschen in Amerika
Milwaukee
toc3 Zur Bucht der Störe
Von Milwaukee nach Sturgeon Bay
toc4 Das Tor zur Freizeit
Door County
toc5 Im Land der schlafenden Bärin
Von Ludington nach Traverse City
toc6 Auf Hemingways Spuren
Von Traverse City nach Petoskey
toc7 Kunst am anderen Ufer – ein amerikanisches Worpswede
Von Petoskey nach Saugatuck
  ZWEI SEEN: QUER DURCH WISCONSIN – VOM LAKE MICHIGAN ZUM LAKE SUPERIOR
toc8 Wisconsins Haupt- und Studentenstadt
Von Milwaukee nach Madison
toc9 Frank Lloyd Wright und andere Architekten
Von Madison bis Prairie du Chien
toc10 Die großen Bluffs
Von Prairie du Chien nach Red Wing
toc11 Die Twin Cities
Minneapolis/St. Paul
toc12 Zum größten der Großen Seen
Von Minneapolis nach Duluth am Lake Superior
toc13 Wisconsins Nordküste
Von Duluth nach Ironwood
toc14 Hinterwäldler und Kupfersucher
Von Ironwood über die Keweenaw Peninsula nach Marquette
toc15 Extratag: In die Wildnis
Der Isle Royale National Park
toc16 Vom größten See zur größten Brücke
Von Marquette nach Mackinaw City
toc17 Autofreie Sommerfrische
Ein Abstecher nach Mackinac Island
  DREI SEEN: CHICAGO – TORONTO UND ZURÜCK, VORBEI AN LAKE ERIE, LAKE ONTARIO UND LAKEHURON
toc18 Dünen und Strände, Football und Autos
Von Chicago nach Sandusky
toc19 Mehr als nur Rock ’n’ Roll
Cleveland
toc20 Donnerndes Wasser
Von Cleveland nach Niagara-on-the-Lake
toc21 Vereinte Nationen
Toronto
toc22 Mennoniten, Shakespeare und Baderummel
Von Toronto nach Grand Bend
toc23 Ölsucher, Ex-Sklaven und ein Vogelparadies
Von Grand Bend zum Point Pelee National Park
toc24 Durch Amerikas Autostadt
Von Point Pelee über Detroit nach Ann Arbor
toc25 Zwei Städte in Michigan
Von Ann Arbor über Lansing nach Grand Rapids
 

Service von A bis Z

Orts- und Sachregister

Namenregister

Bildnachweis

Impressum

Zeichenerklärung

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Die Großen Seen
Reiseland im Herzen Amerikas

Amerika hat seine West- und seine Ostküste. Jede steht für unterschiedliche Traditionen und Lebensarten und jede prägt nicht nur die Menschen, die direkt dort leben, sondern wirkt auch weit ins Landesinnere hinein. Soweit, so einfach, und doch ist das nur ein Teil der Wahrheit.

Denn Amerika hat noch eine Küste, die Third Coast oder North Coast, die Küste der Großen Seen. Diese Küste prägt Land und Leute nicht minder, und auch ihr Einfluss reicht weit ins Land hinein. So wie San Francisco und New York für das Lebensgefühl der West- und der Ostküste stehen, so ist Chicago die Hauptstadt der Nordküste. Auch Chicago ist eine Hafenstadt – und der dortige Hafen ist heute genauso unbelebt wie der von New York City.

Chicago, eine Hafen- und Küstenstadt? Amerikas Heartland eine Küstenprovinz? Das will einem erst nicht in den Kopf, denn Chicago ist zugleich die Hauptstadt der Prärie, des Mittleren Westens und Middle America. All das ruft so viele ländliche Bilder hervor, dass eine Hafen- und Küstenstadt einfach nicht in die mentale Landkarte passt, die man sich von Amerikas Mittlerem Westen macht. Und doch, wer morgens in Chicago aufbricht, um im Süden um den Lake Michigan zu fahren, kann abends die Sonne im gleichen goldrot schimmernden See versinken sehen, aus dem sie morgens aufstieg – bei keinem der fünf Seen kann man das gegenüberliegende Ufer erkennen. Der Lake Michigan, mit 58 016 Quadratkilometern der drittgrößte, ist größer als Belgien, Luxemburg und die Niederlande zusammen, und der Lake Superior, mit 82 414 Quadratkilometern der größte, ist größer als Österreich.

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Leuchtturm von Holland

Jean Nicolet befuhr 1634 die Großen Seen auf seiner Suche nach einer Nordwestpassage. Als er mit seinem Paddelboot bei Green Bay im heutigen Wisconsin anlegte, glaubte er in China zu sein. Er ahnte nicht, dass er durch lauter Binnenseen gepaddelt war – man könnte sich natürlich fragen, warum er nie das Wasser probiert hat. Die Strecke vom Ostufer des Ontario-Sees bis zum fernsten westlichen Zipfel des Lake Superior beträgt ein Drittel der Distanz von Küste zu Küste. Lake Michigan, Lake Huron, Lake Superior und Lake Erie machen aus dem Bundesstaat Michigan eine doppelte Halbinsel, und am Westufer des Lake Michigan trafen einst die Wasser des Sees auf die wogende Unendlichkeit der Prärie. Die Winde haben hier Auslauf, und die Möwe ist bis weit ins Landesinnere hinein der die Lüfte beherrschende Vogel.

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An der Grenze zwischen USA und Kanada: die Niagarafälle

Der Legende nach entstanden die Großen Seen, als der gigantische Holzfäller Paul Bunyan Wasser für seine Sägewerke brauchte. Er hob riesige Löcher aus und warf die Erde – damit sie nicht auf seine Wälder fiele – bis nach North und South Dakota, wo sie die Black Hills bildeten. Das Wasser für die Seen besorgte er sich aus dem Atlantik, zu dem er einen Graben buddelte, den St.-Lorenz-Strom. Als die Löcher vollgelaufen und so die Seen entstanden waren, nahm Paul Bunyan erneut die Schaufel und änderte die Laufrichtung des St.-Lorenz-Stromes wieder. Bei Niagara errichtete er ein steinernes Stauwehr, um das Wasser am Auslaufen zu hindern. Etwas Wasser läuft jedoch immer ab – über die Niagara Falls. Dass die Seen eine unterschiedliche Wasserhöhe besitzen, liegt an Paul Bunyans großem blauen Ochsen. Der trank zwar nur alle paar Jahre, soff aber dann ganze Seen aus, die erst langsam wieder volllaufen mussten.

Die Wirklichkeit ist auf ihre Weise so fantastisch wie die Sage: Die Großen Seen sind das Werk der Eiszeit. Vor etwa 13 000 Jahren bedeckten gewaltige Gletschermassen die Erde mit kilometerhohen Eispanzern. Deren Gewicht presste Vertiefungen in den Boden, die sich beim Rückzug des Eises mit Schmelzwasser füllten. So entstanden die Flüsse, Flüsschen und Ströme, die wie der Chicago River, der Illinois River und der Mississippi das Land durchkreuzen, so entstanden die ungezählten Gewässer der Seenplatten Wisconsins und Minnesotas, an denen man die Sommervillen und Schlösser der reichen Chicagoer ebenso findet wie die rustikalen Blockhütten bescheidenerer Urlauber; und so entstanden auch die riesigen Seen und Buchten, die Amerikas Silhouette an seiner nördlichen Grenze auf so charakteristische Weise ausfransen. Die Großen Seen sind gleichsam die amerikanischen Geschwister des Bottnischen Meerbusens, nur dass diese – anders als jener – keinen Ausgang zum Meer haben. Das vom Eis befreite Land gebärdete sich ein wenig wie ein auftauchendes U-Boot, es schwankte und troff. Deshalb flossen die Schmelzwassermassen erst nach Westen ins Mississippi-Becken ab und drängten dann in einer urzeitlichen Flutkatatrophe, die den St.-Lorenz-Strom schuf, nach Osten. Einen Nachhall dieser Katastrophe hört man noch heute im Donnern der Niagarafälle. Die Ostneigung des Landes nämlich ließ die Seen einen in den anderen überfließen, und die Höhendifferenz zwischen dem Erie-See und dem Ontario-See ließ den berühmten Katarakt entstehen, an dem der eine See in den anderen stürzt.

Die umherschweifenden Schmelzwasser verteilten das von den Gletschern fein gemahlene Gestein und mineralische Material in große Schwemmfächer. Sand- und Staubstürme brachten fruchtbaren Lös heran. Die Präriepflanzen trugen das Ihre zum Jahrtausendwerk guten Bodens bei. Um die Großen Seen und westlich von ihnen entstand ein Boden, dessen Mächtigkeit in Metern statt wie anderswo in Zentimetern gemessen wird und der 400 Tonnen organisches Material je Hektar aufweist – ideales Land für europäische Auswanderer. Hier siedelten sich Farmer an, hier entstand die Kornkammer der Welt.

Die Große-Seen-Region war eine Schatzkammer für die frühen Neuankömmlinge. Ihr Reichtum an Holz, Wild und Fisch übertraf alles, was man in Europa je gesehen hatte. Im Laufe der Besiedlung wurden diese Reichtümer weitgehend geplündert. Die untere der beiden Halbinseln Michigans ist heute weitgehend Farm- und Industrieland – von den großen Wäldern, die einst dort wuchsen, blieb nicht viel übrig. Bäume waren rar auf der Prärie, und das Holz wurde für den Bau der Städte wie Chicago und Milwaukee sowie zur Verhüttung der Erze gebraucht. Die Seen wurden leer gefischt, es verschwanden der Riesenstör und der Lachs. Die in die Millionen gehenden Büffelherden wichen der Vieh- und Milchwirtschaft, die wogende Prärie den Weizen- und Maisfeldern.

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Die Schrammen im Gestein sind Spuren der Eiszeit

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Farmgebäude im Gebiet der Sleeping Bear Dunes National Lakeshore

Farmen und Industrie an den Großen Seen haben unser Leben mehr beeinflusst, als wir mitunter ahnen: Hier wurden erstmals Rinder mit Mais gemästet, die dann in Chicago geschlachtet und mit Kühlzügen in alle Teile des Landes transportiert wurden. Hier erfand man Corned Beef (eingedostes Rindfleisch), konfektionierte Fleischportionen (Hamburger) und die dazugehörige industrielle Brötchenfertigung. Hier wurden erstmals moderne Traktoren und Mähdrescher eingesetzt: Die industrielle Nahrungsmittelproduktion, die unsere Landwirtschaft und unsere Essgewohnheiten – nicht nur positiv – umwälzen sollte, nahm hier ihren Anfang.

Dabei ist die Region der Großen Seen keine kulinarische Einöde, in der es nichts als Hamburger aus Restaurantketten und Steaks gibt. Aus den Seen selbst kommen Stör, Barsch, Walley-Hecht und Whitefish (amerikanischer Seehering), aus ihren Zuflüssen Lachs und Forelle. In Wisconsin und Minnesota gibt es zarte Lämmer, Käse und gutes Bier, in Illinois Kälber und Kornschweine. Michigan ist Amerikas Obstgarten, und im Staat New York wird Wein angebaut und bestes Bier gebraut. Im Vielvölkergemisch der Städte durchdringen sich die Küchentraditionen aus aller Herren Länder – man muss nur noch entscheiden, wie man essen will: vietnamesisch, thailändisch, chinesisch, libanesisch, griechisch, polnisch, deutsch, italienisch oder…

So hat nicht nur die Gunst der Natur die Großen Seen zu dem gemacht, was sie in der Geschichte und Gegenwart Amerikas waren und sind. Denn als das Land nach seinen Schwankungen zur Ruhe gekommen war, hatten die Seen ihre Verbindung sowohl zum Mississippi als auch zum Atlantik verloren. Erst der Bau von Kanälen und Wasserstraßen verlieh den Seen und den an ihren Ufern entstehenden Städten ihre Bedeutung. Der Erie-Kanal, 1825 vollendet, verband Chicago mit den Städten des Ostens und der Illinois-Kanal (1848) die Städte an den Seen mit dem Mississippi. Damit konnten Schiffe bis nach New Orleans segeln. Und seit der Eröffnung des St.-Lorenz-Seeweges zum Atlantik können Ozeanriesen von Griechenland, Indien und Australien aus bis nach Chicago und Duluth am Lake Superior fahren.

Die Kanäle gaben den Großen Seen ihre Bedeutung als Wasserstraße für die Eroberung, Erschließung, Besiedlung und Bewirtschaftung des amerikanischen Kontinents. Chicago wurde zur Hauptstadt zwischen Ost und West, und über die Seen kamen Rohstoffe und Güter von der Ostküste ins Landesinnere und von da zurück an die Häfen der Ostküste. Die Städte boomten, sie waren Zentren zur Verschiffung von Holz und Erzen und auch mehr und mehr Ziele für Einwanderer, die kamen, um ihr Glück in Amerika zu machen. Chicago, Milwaukee und Detroit wuchsen zu Millionenstädten, und um die Seen siedelten sich in aufeinander folgenden Wellen Polen, Iren, Skandinavier, Russen, Italiener und besonders Deutsche an. Sie alle prägten und prägen noch heute diese Region.

Gleichzeitig lösten die Industriestädte wie Chicago, Milwaukee, Detroit, Toledo, Lansing, Flint, Pontiac, Gary, Cleveland, Toronto und Buffalo eine der größten Migrationswellen der Geschichte Amerikas aus, die Wanderung der Schwarzen aus dem Mississippi-Delta in den industriellen Norden. Die schwarze Bevölkerung brachte ihre Arbeitskraft und ihre Kultur mit. Der sogenannte Blues Highway mündet in Chicago, verzweigt sich aber auch in andere urbane Zentren wie Milwaukee, Detroit und Minneapolis, die auch heute noch, genau wie Chicago, eine rege Musikszene haben.

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Auch als »The Bean« bekannt: die Cloud Gate Statue des britischen Künstlers Anish Kapoor in Chicago

Die fünf Großen Seen verbinden zwei Nationen und berühren acht amerikanische Bundesstaaten. Die Grenze zwischen Kanada und den USA verläuft durch die geografische Mitte der Seen Ontario, Erie, Huron und Superior. Einzig der Lake Michigan liegt vollständig auf US-amerikanischem Territorium. Durch ihn verläuft dafür die Grenze zwischen den Bundesstaaten Wisconsin und Michigan und zwischen den Zeitzonen Eastern und Central. In Chicago ist es also eine Stunde früher als in Detroit.

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Heimisch am Lake Superior: der Schwarzbär

An den Großen Seen liegen die Bundesstaaten Minnesota, Wisconsin, Illinois, Indiana, Michigan, Ohio, Pennsylvania und New York. Die Seen bilden die Klammer zwischen Amerikas sogenanntem Rostgürtel und seiner Kornkammer. Städte wie Milwaukee, Chicago, Gary (Indiana), Detroit, Cleveland und Toledo (Ohio) sowie Buffalo (New York) sind alte Industriestandorte, die in der Deindustrialisierung seit den 1970er Jahren erst verfielen – daher der Name Rostgürtel – und zurzeit eine Renaissance erleben. In den Hafenstädten Duluth (Minnesota) am Lake Superior, Chicago am Lake Michigan, Port Huron am Lake Huron, Buffalo am Lake Erie und auch Minneapolis am Mississippi wurde der Reichtum der Prärie verarbeitet und umgeschlagen. Wer heute mit der Eisenbahn von Chicago nach Seattle fährt, muss an manchen Weichen entlang der Strecke auf einen der von vier haushohen Lokomotiven gezogenen kilometerlangen Güterzüge warten, die Getreide nach Duluth oder in die Brauereien von Milwaukee bringen. Die Seen verklammern zugleich die am dichtesten besiedelten Regionen der USA mit ihren entlegensten Provinzen. Auf der nördlichen Halbinsel Michigans, in einer an die arktische Tundra erinnernden Landschaft, weist nichts auf das nur anderthalb Tagesreisen entfernte Chicago oder Toronto hin, und in Wisconsin, nur ein paar Stunden von Milwaukee entfernt, kann man sich in den Weiten der Wälder verlieren.

Die Großen Seen liegen inmitten von Amerikas Heartland. Hier schlägt Amerikas Herz, und hier trägt Amerika sein Herz auf der Zunge. Keine Region verkörpert auf so dichtem Raum die ganze Mannigfaltigkeit und alle Widersprüche, die Amerika ausmachen. Hier entstanden Amerikas große Finanzimperien, hier walteten die Eisenbahn-, Auto- und Stahlbarone. Und nirgendwo sonst lagen Reichtum und Armut so dicht beieinander wie in Chicago, Detroit oder Milwaukee.

Seit Anfang der 1990er Jahre belebt sich die Region wieder. Die Großen Seen sind wieder sauberer, und in ihnen überleben neu ausgesetzte Fische. Die Wälder des nördlichen Michigan bevölkern sich mit Bären, und der aus Kanada zurückkehrende Wolf wird hier wieder heimisch. Chicago und Milwaukee, Cleveland und Detroit sind nicht mehr Synonyme für städtische Armut, Slums und die Geißel des Verbrechens, sondern für eine saubere Service-Industrie und eine lebendige Kunstszene. Toronto ist die kanadische Boomstadt schlechthin: Lebhaft, intellektuell, sicher und mit einem fantastischen Kulturprogramm wird es von amerikanischen Blättern überschwänglich als »New York ohne Fehler« gerühmt.

Routenplanung
Wie man die Reise gestalten kann

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Spritztour auf der Keweenaw Peninsula bei Copper Harbor

Schon immer ein bevorzugtes Reiseziel für inneramerikanische Urlauber, sind die Großen Seen touristische Kleinodien, die so manchen Geheimtipp bergen. Ob man im Frühjahr und Sommer wandern, paddeln, schwimmen oder angeln will, im Herbst die Farbenexplosion der Ahornwälder erleben oder jagen, im Winter per Langlaufski oder Snowmobile durch die Wälder streift, hier ist das alles möglich. Wer urbanes Leben sucht, kommt in Chicago und Toronto am besten auf seine Kosten.

Wie man sich die Region erschließt? Eine Anreise per Eisenbahn wäre kein schlechter Anfang. Zur Eisenbahn hat diese Region nämlich ein enges Verhältnis. Denn so wichtig die Seen, Flüsse und die sie verbindenden Kanäle für die Erschließung auch waren, erst die Eisenbahn machte aus ihr das Herz Amerikas. Chicago ist die Eisenbahn-Hauptstadt des Landes. Von New York nach Chicago verkehrt der »Lakeshore Limited«, kurz LS, ein traditionsreicher Nachtzug der Amtrak, der mit seinem Flair und seinem (durchaus erschwinglichen) Luxus an die entsprechenden Szenen in Hitchcocks berühmtem Film »North by Northwest« (dt. »Der unsichtbare Dritte«, 1959) erinnert. Der Chicagoer Bahnhof ist grandios, und ein Frühstück in einem Café auf der Michigan Avenue ein guter Auftakt der Reise.

Wie geht es weiter? Zum Auto gibt es im modernen Amerika keine Alternative. Ein Netz von Highways durchzieht das Land, und wer sich die Landkarte der USA anguckt, gewahrt ein Phänomen, das Amerikaner varicose highways nennen. Varicose veins sind Krampfadern. Die großen Highways durchziehen wie hervorstehende Adern die Landschaft. Das Interstate-Highway-System wurde in den 1950er Jahren geschaffen, um eine schnelle Flucht aus den Städten zu ermöglichen, sollte es zu einem Atomangriff der Sowjetunion kommen. Sie dienten natürlich auch der Erschließung der Industriegebiete und trugen zum Zusammenbruch von Amerikas Eisenbahnsystem bei. Die Interstate Highways förderten auch die Suburbanisierung der Städte und die Zersiedlung der Landschaft.

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Drei Touren bietet der Reiseführer an, und für jede benötigt man mindestens acht bis zehn Tage. Alle Touren beginnen in oder nahe Chicago. Die Routen sind miteinander verknüpft und berühren sich, sodass man sich problemlos eine mehrwöchige Reise zusammenstellen kann.

Die erste Route (rot) führt um den Lake Michigan herum – allerdings nicht ganz, denn die nördliche Spitze des Sees schneidet eine Überfahrt mit der letzten auf dem Lake Michigan noch verkehrenden Fähre ab. Die Reise beginnt in Chicago und führt am westlichen Seeufer entlang nach Norden über Milwaukee, die Hauptstadt der Deutschen in Amerika, ins bukolische Wisconsin bis hinauf in den Sporn der Door-Halbinsel, macht dann einen Bogen nach Manitowoc zurück, von wo es über den See nach Ludington im Bundesstaat Michigan geht.

Am Ostufer führt der Weg dann immer am Wasser entlang nach Norden, vorbei an den einzigartigen großen Binnenseedünen und auf der Fährte des jugendlichen Hemingway, dessen erste Geschichten in dieser Region spielen. Bei Mackinaw City, wo sich eine luftige Hängebrücke über die »Meerenge« zwischen Lake Michigan und Lake Huron zur nördlichen Halbinsel Michigans hinüberschwingt, besteht Anschlussmöglichkeit an die Route zwei (blau), der man dann in umgekehrter Richtung folgt. Die erste Route führt zurück durch das Landesinnere der unteren Halbinsel nach Süden, wo sich bei Saugatuck die erste und dritte Route begegnen – eine durchaus sinnvolle Kombination. Von hier aus, einem amerikanischen Worpswede, kann man auch zum Ausgangspunkt Chicago zurückkehren und dann die Route drei (grün) anschließen.

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Am Strand des Lake Ontario bei Toronto: Auch beim Kleinsten der Großen Seen ist das andere Ufer nicht in Sicht

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Route zwei (blau) beginnt in Milwaukee, der größten Stadt des Bundesstaates Wisconsin, führt von dort in die lebhafte Studentenstadt Madison (die zugleich Wisconsins Hauptstadt ist), dann vorbei an den Musterbeispielen der Präriearchitektur von Frank Lloyd Wright und entlang des Mississippi zum westlichsten Punkt der Reise, in die Twin Cities Minneapolis und St. Paul. Letztere ist die Hauptstadt von Minnesota. Von dort geht es nach Duluth am Lake Superior, dem Größten der Großen Seen, und dann das Südufer entlang nach Osten. Ein Abstecher, der nur lohnt, wenn man dort mehrere Tage bleiben will, führt auf die Isle Royale, die größte Insel im Lake Superior, ein Nationalpark mit Elchen und Wölfen. Durch Michigans Upper Peninsula, eine einsame Landschaft mit vereinzelten alten Erzstädten und wundervollen, auch während der Hochsaison einsamen Stränden – so am Pictured Rocks National Lakeshore westlich der Stadt Munising – geht es nach Osten. Bei St. Ignace fährt man auf die nördliche Auffahrt der Brücke über die Straits of Mackinac, dann ist Mackinaw City erreicht. Ein lohnendes Ziel für einen letzten Tagesausflug ist Mackinac Island. In Mackinaw City, dem Endpunkt der Tour, trifft man übrigens wieder auf die Route eins (rot).

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Route drei (grün) beginnt wie Route eins in Chicago, führt von dort nach Osten quer durch das nördliche, ländliche Indiana und Ohio bis zum Lake Erie. In Ohio ist Cleveland ein Ziel, weiter östlich in Pennsylvania die Stadt Erie und im Staat New York schließlich sind es Buffalo und die weltberühmten Niagarafälle. Dort überquert man die Grenze nach Kanada, nicht nur, weil die Fälle auf der kanadischen Seite imposanter sind, sondern auch, weil man Toronto – neben Chicago die aufregendste Stadt an den Seen – auf keinen Fall auslassen sollte. Vorbei an Waterloo und Kitchener (eine Doppelstadt, in deren Umgebung zahlreiche Mennoniten leben), an Stratford, wo jedes Jahr ein riesiges, international beachtetes Theaterfestival stattfindet, an den Stränden des Lake Huron, den ersten Ölfeldern des amerikanischen Kontinents bei Oil Springs (in Kanada) und dem Vogelparadies Point Pelee, einer Halbinsel im Lake Erie, erreicht man Detroit: einst Autozentrum, dann zerfallende Großstadt und heute wieder auf dem Weg zur interessanten Metropole. Weiter westlich liegen Ann Arbor, eine lebhafte und kultivierte Studentenstadt, Lansing, die ruhige Hauptstadt Michigans, und Grand Rapids, das Musterbeispiel einer amerikanisch-ländlichen, auch auf Tradition bedachten mittleren Großstadt. Nur wenige Meilen weiter ist Saugatuck erreicht, Endpunkt der Route und Treffpunkt mit der Route eins (rot).

Diese Routen sind Vorschläge. Natürlich kann man länger als einen Tag in Chicago oder Toronto bleiben – manch einer geht sein Leben dort nicht mehr weg –, natürlich auch länger als ein paar Stunden an der Pictured Rocks National Lakeshore, an den Stränden am Lake Michigan oder Lake Huron. Man kann die einzelnen Routen auch anders als angegeben miteinander kombinieren. Wer es eiliger hat und viel sehen möchte, kann beispielsweise von Chicago nach Toronto fliegen und so eine große Strecke der Route drei (grün) abskürzen. Von Toronto führt dann ein Tagesausflug zu den Niagara Falls. Anschließend widmet man sich den Theateraufführungen in Stratford oder den Lake-Huron-Stränden in Grand Bend. Oder wer in Toronto landet, kann von dort dem Nordteil der Route drei folgen, an deren Endpunkt ein Stück rückwärts der Route eins (rot) und dann von Mackinaw City (ebenfalls umgekehrt) der Route zwei (blau), entlang dem Lake Superior bis Duluth und Minneapolis.

Benutzen Sie die Routen und Wegbeschreibungen als Bausteine und basteln Sie sich Ihren persönlichen idealen Aufenthalt. Tagelange Wanderungen können Sie in die Wildnis des Nordens führen oder aber über das Pflaster der Großstädte. Zwar sind die Vorschläge in diesem Buch erprobt, um eine erlebnisreiche Reise zu gestalten – wer will, sollte sich aber stärker treiben lassen. Immer dran denken: Man kann auch noch einmal wiederkommen. Erstens lohnt es sich und zweitens laufen die Seen nicht weg.

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Die Region der Großen Seen ist zu allen Jahreszeiten reizvoll: lodernde Farben der herbstlichen Laubwälder

Chronik
Daten zur Geschichte der Region

Nachdem vor etwa 13 000 Jahren der letzte große Gletscher seinen Rückzug aus dem Gebiet der Großen Seen angetreten hatte, lag das Land in etwa so da, wie man es heute vorfindet: Das Eis hatte es abgehobelt und zahllose Seen gegraben, kleine wie die der Seenplatten von Minnesota und Wisconsin, große wie den Lake Michigan. Sie ließen auch ein Gewirr aus Flüssen und Strömen zurück und große Schuttsäume, Moränen genannte Geröllhalden. Um 7000 vor Christus lassen sich hier die ersten Indianervölker nieder, Gruppen, die man gemeinhin als Old Copper Culture Indianer bezeichnet. Diese verarbeiten schon zwischen 5000 und 1500 vor Christus im Gebiet der Upper Peninsula Michigans Kupfer.